Schon ganz am Anfang hätte Art Keller wissen müssen, dass der Krieg zum Scheitern verurteilt sein würde. Sein Krieg. Der Krieg seines Landes gegen die Drogen. Denn die Amerikaner sehen immer nur das System, sie begreifen nicht, worum es in Mexiko geht, nämlich um persönliche Beziehungen. „Tio“ – „Onkel“ – nennen sie den Mann, der das sagt, in Don Winslows Roman „Tage der Toten“.

An persönlichen Beziehungen mangelt es dem jungen ehrgeizigen Keller. Er zählt zu den Beamten der ersten Stunde in Amerikas Speerspitze im Kampf gegen den Drogenhandel DEA. Aber die meisten DEA-Agenten sind weiße Amerikaner. Keller ist halber Mexikaner. Die meisten DEA-Agenten sind Cops, Keller kommt aus dem Gheimdienst CIA. Sie mögen ihn nicht, sie mobben und grenzen ihn aus. Um endlich seinen eigenen Drogenkrieg zu beginnen, braucht Keller Tío.

Miguel Angel Barrera – Tío – ist Polizeichef im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa als Keller ihn um Hilfe bittet. Er sorgt dafür, dass Keller in Mexiko bleiben kann. Barrera, den auch Keller bald „Tío“ nennen darf, verschafft dem jungen Drogenfahner einen bahnbrechenden Erfolg. Mit einem Schlag vernichten Tío und Keller die mexikanische Opiumproduktion. Doch nur, damit Tío sein eigenes noch viel gewiefteres Geschäftsmodell verwirklichen kann. Kellers erster Sieg und seine erste Niederlage. Und er lernt nicht. Er begreift nicht, dass man in diesem Spiel nur benutzt und benutzt wird. Keller läuft Amok. Erst gegen Tío, dann gegen dessen Neffen Adán Barrera.

Der Krieg des Art Keller steht für die sinnlosen Kriege Amerikas

Der Krieg des Art Keller steht sinnbildlich für den amerikanischen Drogenkrieg. Siege kann nur erringen, wer bereit ist zu Mord, Totschlag, Erpressung, Folter. Das gilt für die einfachen Drogenschmuggler, wie für die großen Bosse, wie für die US-Drogenfahnder. Wer die Bösen besiegen will, muss böse werden wie sie. Don Winslow beschreibt in „Tage der Toten“ den schmutzigen Krieg in Amerikas Hinterhöfen als ein endloses Töten und Sterben in der Welt der geringeren Übel. Er beschreibt, wie die USA ihre eigenen Prinzipien verraten, weil sie die Drogenkartelle für die Drecksarbeit im Kampf gegen sozialistische Widerstandsbewegungen in Lateinamerika brauchen. Soziale Gerechtigkeit und Demokratie vor ihrer Haustür fürchtet die Supermacht weit mehr als Drogen.

Unfreiwillig im Räderwerk der Kriminalität

Mit Art Keller stößt der Leser die Tür zum Morden und Sterben weit auf. Die „Tage der Toten“ zu ertragen fällt nicht immer leicht. Winslow beschreibt seine Charaktere nicht. Er lässt den Leser sie kennenlernen: Den Drogenfahnder Art Keller, der Familienglück und Seelenheil im Krieg gegen die Drogen verliert. Den Genius des Drogenhandels, Adán Barrera, der seine behinderte Tochter über alles liebt. Seinen mordlustigen Bruder Raúl. Die amerikanische Edelprostituierte Nora Hayden, die einen katholischen Bischof liebt und Barrera verrät. Den jungen New Yorker Iren Callan, der unfreiwillig ins Räderwerk der orgnisierten Kriminalität gerät und zum Killer wider Willen wird.

Tage der Toten ist ein literarisches Meisterwerk

Don Winslow verleiht sogar Nebenfiguren ein menschliches Gesicht. Das macht „Tage der Toten“ auch zum literarischen Meisterwerk: Die Charaktere und die Sprache, in der Don Winslow sie zum Leben erweckt. Er schreibt im bildhaften Duktus der Hispanier und dann wieder in der lakonischen Coolness der Manhattaner West Side. Das Buch ist bis in jedes Detail sorgfältig komponiert. Man spürt wie Winslow an jedem Detail, jeder Silbe hingebungsvoll gefeilt hat. Dieses Buch, „Tage der Toten“ ist Winslows Lebenswerk. Diese Klasse wird er vielleicht nie mehr erreichen. Aber die meisten Krimi- und Thrillerautoren schaffen nie ein solches Werk.

Der Drogenkrieg ist zu undankbar für den durchschnittlichen Thrillerautoren

Ob „Tage der Toten“ tatsächlich wie gelegentlich eingeordnet ein Jahrhundertroman ist, muss das noch junge Jahrhundert erst erweisen. Fest steht: „Tage der Toten“ ist zu wichtig, um das Buch zu ignorieren. Es schildert eine Seite Amerikas, die dem Heer der US-Thrillerautoren zu schmutzig ist, zu undankbar. Denn im Drogenkrieg gibt es keine Helden. „Tage der Toten“ ist eine Geschichte der verlorenen, der aussichtslosen Kriege. Kriege, die Amerika führt, weil ein aufgeblähter Militärapparat eben Kriege braucht. Kriege, die Amerika aber nicht gewinnen kann, weil es die Menschen nicht versteht – nicht die, die morden und nicht die, die sterben. Nicht die Motive und nicht die Geschichten.

Das Buch räumt auf mit Gangsta-Romantik. Winslows Figuren leiden fast ausnahmslos an sich und an dem was sie tun. Einigen Protagonisten zeigt das Leben einen Ausweg. Doch sie nutzen ihn nicht. Der Drogenkrieg, das Geschäft ist wichtiger. Und dann ist da noch die Furcht vor den Folgen eines solchen Ausstiegs. Wen die Drogenmafia, wen die Drogenfahndung aufs Korn nimmt, der hat keine Zuflucht mehr. Der muss weit und endgültig fliehen. Winslows „Helden“ fehlt die Kraft dazu. Auch darin bleiben sie menschlich.

Art Keller dient dem Roman als historische Klammer. Aus dem verlorenen Krieg in Vietnam zieht er in den nächsten verlorenen Krieg. Ganz am Ende des Buches, wenn er seinen Erzfeind Adán Barrera zur Strecke gebracht hat, schmeckt der Sieg schal. Zu viele Unschuldige sind dafür gestorben. Und Amerika? Amerika ist schon in den nächsten Krieg weiter gezogen: In den Krieg gegen den Terror.

Don Winslow: Tage der Toten, Suhrkamp.