„Gestern ‚im Auftrag der NS-Partei‘ – nicht einmal dem Namen nach im Regierungsauftrag – der Dramatiker Karl Wolff entlassen, heute das ganze sächsische Ministerium usw. usw.“ (Klemperer, Bd. 1, S. 9)
Am 10. März 1933, einem Freitag, notiert Victor Klemperer erstmals einen konkreten politischen Vorfall. Ein Dramatiker wird im Namen einer Partei entlassen, nicht im Namen einer dazu befugten legalen Institution. Dieser Vorfall ereignete sich nicht nach einem langen Siechtum eines sich wehrenden Rechtsstaats, sondern nur 39 Tage nach der so genannten Machterfreifung.
Der Rechtsstaat nahm es passiv hin, und Klemperer protokolliert den Vollzug der Machtergreifung im Alltag:
„Eine Stimmung der Angst, wie sie in Frankreich unter den Jakobinern geherrscht haben muss. Noch zittert man nicht um sein Leben – aber um Lohn und Freiheit.“ (Klemperer, Bd. 1, S. 25)
Das schreibt Klemperer am 22. März 1933. Noch bevor das Ermächtigungsgesetz den Reichstag passiert hatte, signalisiert Klemperer mit diesen Worteneine subjektiv empfundene Rechtlosigkeit. Schon vorher, am 17. März, hat er bemerkt, es sei „furchtbar leichtsinnig“, dieses Tagebuch zu führen. Er rechnet also mit willkürlichen Hausdurchsuchungen. Bürgerrechte und Meinungsfreiheit – all dies zählt schon wenige Wochen nach der Machtergreifung nicht mehr.
Dieses Gefühl totaler Rechtlosigkeit verunsichert keineswegs nur den Juden Klemperer. Am 10. August 1933 vertraut er seinem tagebuch an, er habe bei einem Händler ein Stoßgebet gehört: „Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Hohnstein kumm.“ In der Burg Hohnstein befand sich eines der ersten Konzentrationslager.
„Man wagt keinen Brief zu schreiben, man wagt nicht zu telefonieren, man besucht sich und erwägt die Chancen. Der Referent im Ministerium hat das gesagt, jener dies. Das könnte günstig sein. Aber man weiß nicht, ob der mit der günstigen Meinung am Ruder bleibt, wie weit er überhaupt ‚am Ruder‘ ist usw. usw.“ (Klemperer, Bd.1, S. 47)
Immer noch befinden wir uns in der Anfangsphase der Diktatur, in der zahlreiche Verbände und Organe noch handlungsfähig sind. Doch von dieser Seite erwartet niemand Hilfe. Man hofft auf Erlösung von Außen:
„Ich höre es nun schon von dem ganz christlichen, ganz nationalen jungen Köhler: Die Franzosen werden uns befreien.“ (Klemperer am 25. April 1933)
Sicher, im April ist das Ermächtigungsgesetz schon beschlossen, doch das Misstrauen in den Weimarer Rechtsstaat hat sich schon früher angedeutet. Und er scheint den menschen nicht zu fehlen. Sein Versagen scheint den Menschen folgerichtig. Dem Misstrauen in das Recht folgt der Eintritt in die Rechtlosigkeit.
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