Nun hat er es doch getan: Vladimir Putin hat die abtrünnigen ukrainischen Povinzen Donezk und Luhansk als selbstständige Staaten anerkannt – und begeht damit drei strategische Fehler auf einmal und zum zweiten Mal. Das zeigt einmal mehr: Putin mag ein geschickter Taktiker sein, ein Stratege war er nie.
Russland schiebt die Ukraine nach Westen ab
Die Ukraine besitzt für die kulturelle Identität der Russen eine zentrale Bedeutung. Stand die Wiege Russlands doch im Reich der Kiewer Rus, jenes mythischen Volkes, über dessen Ursprung Historiker bis heute streiten. Die Rus eroberten ein ruhmreiches Großreich, auf das sich die heutigen Staaten Ukraine, Belarus und Russland zurückführen. Aus dieser Historie leitete Putin in einer Ansprache am 21. Februar 2022 das Recht Russlands ab, die Ukraine zu besetzen und dem eigenen Staatsgebiet einzuverleiben. Dabei ist zur Stunde noch unklar, ob Russland dies tun wird.
Zu den vielen Motiven des russischen Militäraufmarschs an den Grenzen der Ukraine zählt vor diesem Hintergrund ein wichtiges innenpolitisches Motiv: Vladimir Putin war im eigenen Land selten so beliebt wie im Frühjahr 2014, als er die offizielle Eingliederung der Halbinsel Krim in die russische Föderation vollzog. Russland gewann zwar den strategisch wichtigen Hafen von Sewastopol zurück sowie den Zugriff auf die vor der Krim vermuteten Öl- und Gasvorkommen, die Kiew eigentlich ab 2017 gemeinsam mit Exxon Mobile ausbeuten wollte. Doch die Halbinsel selbst entpuppte sich wirtschaftlich als Fass ohne Boden.
Dennoch wiederholt Putin nun einen solchen Schritt, und begeht damit drei strategische Fehler zum zweiten Mal:
- Im annektierten Gebiet leben vorwiegend Russen. Diese Menschen fallen nun als Parteigänger der prorussischen Kräfte in der in dieser Hinsicht gespaltenen Ukraine aus. Ergebnis: Die prowestlichen Kräfte in der Ukraine festigen ihre Stellung, Russland verliert an Einfluss in der Ukraine.
- Allen Verfechtern der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine verpasst Russland einen Fußtritt: Wer eine unabhängige Ukraine will, muss nach Westen blicken.
- Putin festigt den Stand der Nato in allen Anrainerstaaten der russischen Föderation und treibt die Expansion des Bündnisses voran. Beispiel: Finnland und Schweden. Beide Länder haben während eines 40 Jahre dauernden kalten Krieges in direkter Nachbarschaft zur Sowjetunion nie an ihrer Neutralität grüttelt. Nun werden auch dort Stimmen laut, die einen Nato-Beitritt fordern.
Mit der Anerkennung von Donezk und Luhansk hat Vladimir Putin sich selbst unter Zugzwang gebracht. Wenn er die Ukraine nicht komplett annektiert, hat er sie endgültig an „den Westen“ verloren. Aber wer ist das eigentlich, „der Westen“?
Russland rettet die Nato und „den Westen“
„Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der Nato“, wetterte 2019 der französische Präsident Emmanuel Macron. Die USA seien als Bündnispartner nicht mehr verlässlich, schimpfte Macron weiter. Ein irrlichternder US-Präsident Donald Trump hat in vier Jahren zerschlagen, was man bis dahin „den Westen“ nannte. Die Trutzburg aus den Kontinenten Nordamerika und Europa zeigte Risse. Trumps Nachfolger, Joe Biden, bemühte sich kaum, die Entfremdung dies- und jenseits des Atlantik zu überwinden. Der pazifische Raum, die Konfrontation mit China schien ihm wichtiger.
Heute ist davon keine Rede mehr. Noch-Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sitzt nun wieder mit den Großen an einem Tisch – mit dem demonstrativen Selbstbewusstsein eines Fußballtrainers, der gerade seinen Vertrag verlängert bekommen hat, obwohl er in den letzten zwei Spielzeiten keines der Saisonziele erreicht hat. Putins Bedrohung der Ukraine hat die „hirntote“ Nato innerhalb weniger Wochen wiederbelebt, und mit ihr „den Westen“. Die Zweifel an den USA, die in den vergangenen Jahren vor allem in Frankreich und Deutschland gewachsen sind, scheinen heute in eine andere Welt zu gehören. Der Umgang Russlands mit der Ukraine schart die Europäer einmal mehr unter Stars and Stripes und bestätigt vor allem die baltischen Republiken und Polen, die das Dahindämmern der Nato stets mit Sorge sah.
Russland verabschiedet sich vom Weltmarkt
Wenn Russland in der Ukraine einmarschiert, ist Nord Stream 2 tot. Toter als es die Nato je war. Der Kunde Europa wird sich nun nach einem neuen Gasanbieter umsehen müssen. Das wird auch für europäische Verbraucher ungemütlich. Aber der reiche westliche Halbkontinent wird Quellen und Wege finden, seine Bürger mit Brennstoff zu versorgen. Anders sieht das für den Gaslieferanten aus: Ein Kunde, der ihn verlassen hat, wird ohne Not nicht zurückkehren. Aber so wie sich Europa stets auf das russische Erdgas verlassen hat, hat Russland sich stets auf die Euromilliarden aus der EU verlassen.
Ringt sich „der Westen“ zu wirklich einschneidenden Sanktionen gegen Russland durch, bleibt Vladimir Putin nur der reiche Nachbar im Osten. Mit dem Verweis auf China hatte der Pokerspieler Putin auch 2014 schon aufgetrumpft, als „der Westen“ wegen der Annexion der Krim die ersten Sanktionen verhängte. Mit einem Einmarsch in der Ukraine verabschiedet sich Russland von den reichen Märkten in Europa und Nordamerika. Das Land geriete in eine sehr einseitige Abhängigkeit von der wirtschaftlichen Supermacht China, die dann die Preise diktieren könnte. Nina L. Khrushcheva, Professorin für internationale Angelegenheiten an der New School in New York, resümiert dazu im Tagesspiegel: Der russische Präsident ist in die Falle getappt.
Die letzte Schlacht um die Sicherheitsinteressen Russlands wird unter diesen Umständen nicht in der Ukraine geschlagen, sondern in Zentralasien, wo China mit seinem Projekt der neuen Seidenstraße seinen Einfluss ständig ausbaut – auf Kosten Russlands und ohne Rücksicht auf Sicherheitsinteressen des russischen Präsidenten.
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