Die orangerote Leinwand

„Hate was just a legend
And war was never known“

So besang Neil Young 1975 im Song „Cortez, the Killer“ das Aztekenreich. Dieses friedliche Land, das der böse Hernando Cortez zerstörte. Fast 500 Jahre ist das her. Schon zu Zeiten der Blumenkinder, in den 1960er und 1970er Jahren, konnte sich daran niemand erinnern, wie man unter Montezumas Mannen lebte. Mittlerweile haben uns die Archäologen eines besseren belehrt: Die friedlichen Azteken waren regelrechte Eichmanns des mittelamerikanischen Dschungels. Sie hielten andere Indianervölker als Sklaven und besänftigen blutrünstige Gottheiten durch einen nie versiegenden Strom von Menschenopfern. Es gilt als sicher, dass es bei den Opferzeremonien der Azteken regelmäßig zu Kannibalismus kam. Im Lichte neuerer Erkenntnisse sind wir nicht mehr sicher, ob Cortez der Welt nicht vielleicht sogar einen Gefallen getan hat, als er das Aztekenreich liquidierte. Das Aztekenreich war vor allem eine Projektionsfläche.

Nun gibt es keinen Zweifel, dass die Tibeter nie einen Völkermord begangen haben. Sie haben (meines Wissens) auch nie Menschenopfer dargebracht. Und dennoch hat man zuweilen das Gefühl, dass mit dem Dalai Lama ein Stück orangerote Leinwand durch die Welt reist, kluge Sprüche klopft und davon lebt, dass jeder andächtig lauschende Sinnsucher im Wolkenkuckucksheim auf dem Dach der Welt das erblickt, wonach er sich sehnt. Eigentlich sehen wir ja Leute, die sich durch die Welt schnorren, nicht so gern. Aber der Dalai Lama trägt ein bescheidenes Kassengestell und schaut trotzdem ganz würdevoll aus dem Tuchgewand. Außerdem hat ja zur Zeit kein Heim, in das er mal Merkel oder Koch zum Diner einladen kann.

Halten wir kurz fest: Als 1950 die Chinesen Tibet annektierten, fanden sie eine mittelalterliche Feudalgesellschaft vor, in der hungernde Bauern einen faulen Klerus durchfütterten, der betend in den Klöstern ausruhte. Dann kamen die Chinesen. Seither reist das ehemalige geistliche und weltliche Oberhaupt Tibets durch die Welt. Eigentlich sollte jedes unterdrückte Volk seinen Dalai Lama haben. Einen echten Helden, eine Projektionsfläche für archaische Gut-Böse-Vorstellungen, nach denene wir in unserer komplexen Welt so sehr dürsten.

Kategorien: Ansichtssache, Satire

2 Kommentare

  1. Gewagter Bezug, aber interessant. Der Dalai Lama wurde in der westlichen Welt zu dem gemacht, was er jetzt ist – er macht aber auch mit.
    Allerdings schmälert das nicht den Einsatz für Tibet. China hat ja nach der Usurpation auch nicht das Paradies in Tibet geschaffen.

  2. Nein, ein Paradies haben die Chinesen nicht geschaffen. Vielleicht reizt es mich, zu widersprechen, wenn alle Welt vor diesem Menschen andächtig auf die Knie sinkt.

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