Was Second Life angeht, so habe ich mich lange gefragt: Ist das eigentlich ein Phaenomen des Alltags? Verwässere ich nicht die philosophische Ernsthaftigkeit meiner Überlegungen in dieser Serie? Dann wurde mir klar: In einem Alltag der Phaenomene ist Second Life ein hundertprozentiges Phaenomen des Alltags.

Immerhin gibt es dort alles, was es im realen Leben auch gibt: die Bildzeitung, Nissan-Autohäuser, sogar den US-Präsidentschaftswahlkampf gibt es in Second Life.

Die beiden Welten befinden sich auf Kuschelkurs. Jüngste Auswüchse: Eine österreichische Kunstgalerie veranstaltet eine Ausstellung, die man sich entweder real oder in Second Life anschauen kann. Das stellt kein großes Problem dar, wenn nicht der Besucher unterwegs versucht, mit Linden-Dollars zu tanken. Ein großes Mobilfunkunternehmen verschränkt die Welten bereits. In Second Life können die Identitäten der Nutzer, die so genannten Avatare, Prepaid-Handys kaufen. Mit denen können sie dann mit den realen Personen Kontakt aufnehmen, die hinter dem anderen Avatar steckt. Das Angebot bleibt selbstverständlich auf die Mobilfunkkunden in Second Life begrenzt. Solange man den anderen – real – nicht beim Telefonieren sieht, wird schon keiner Schaden an Leib und Seele nehmen.

Aber wie reagieren die Avatare, wenn das Zoom-Zoom-Feeling sie bis ins virtuelle Leben verfolgt? Wenn sie das neue Prepaid-Handy unentwegt auffordert, „the most of now“ zu machen? Wenn die Bildzeitung auch nicht besser ist als in der realen Welt, das Titelmädchen aber dafür völlig pixelig? Wenn das Rauchverbot – pardon: der Nichtraucherschutz – in Second Life Einzug hält? Wenn auch in Second Life alles verboten ist, was man im realen Leben auch nicht darf? Wenn sich plötzlich reale Gerichte mit virtuellen Vergehen befassen? Was machen die Avatare dann? Sie fliehen aus Second Life. Immer wieder liest man über den User-Rückgang. Wenn die DDR so schnell so viele Avatare – pardon: Bürger – verloren hätte, dann wäre sie schon viel früher zusammengebrochen.

Natürlich gibt es in Second Life Kirchen, es gibt sogar sonntags Gottesdienst. Aber es gibt keine Montagsdemonstrationen. Und überhaupt: Welchen Avatar hat der Montag in Second Life? Werden die Konzerne in Second Life auf den Kundenrückgang so besonnen reagieren wie seinerzeit die Mannen von Egon Krenz? Oder werden sie den Schießbefehl geben? Auf die Bürger – äh, pardon: die Avatare – äh, ja wie denn nun? Wissen Sie manchmal nicht mehr, ob sie eingeloggt oder ausgeloggt sind? Schlagen Sie doch einfach mal ganz kräftig den Kopf auf die Tischplatte. Alles was sie danach außer Sternen sehen, das ist real. So leid es mir tut.