Der Klassiker ist tot, lang lebe der Klassiker

38 Jahre lang hat Audio-Technica mit seinem giftgrünen AT95E die HiFi-Szene geprägt und im Streit entzweit. Und das mit einem Tonabnehmer für 50 Euro – oder damals: 50 D-Mark. Die einen fanden in dem preisgünstigen Audio-Technica-System den Einstieg in die Zauberwelt des analogen Musikgenusses, die anderen geißelten die ihrer Ansicht nach zu scharfen Höhen oder die etwas zu prominenten Bässe. Des Pophörers Droge war des Klassikhörers Gift. In der Tat besaß das AT95E eine Art eingebaute Loudness Funktion. Und an zu scharfen Höhen durfte man sich bei Popscheiben in den 1980er Jahren ohnehin nicht beschweren.

Audio-Technica AT95E
Audio-Technica AT95E (Foto: Wolff von Rechenberg)

Der Zeitgeschmack forderte hier eine scharfe Gangart. Der etwas überbetonte aber dennoch zackige Bass verhalf den tonal etwas magersüchtigen Platten von ABC, Yazoo oder Tears for Fears wenigstens zu etwas Substanz. Das AT95 fühlte sich am wohlsten bei einem Auflagegewicht von 2 Gramm. Das ist nicht zuviel für die Platte, hält den Tonabnehmer aber auch bei leichten Wellen in der Spur. Viele Plattenspielerhersteller rüsteten ihre Einsteigermodelle von vornherein mit einem AT95E aus. Mehr noch: Die Edelschmiede Linn in Schottland ließ auf der Basis des AT95E seine Tonabnehmer Linn K5 und K9 fertigen. Und das mit gutem Grund. In diesem günstigen Tonabnehmer mit seiner einfachen elliptischen Nadel schlummerte ein geheimes Potenzial, das zu heben allerdings einen hochwertigen Phonoeingang erforderte.

Das AT95E wuchs mit der nachgelagerten Elektronik

Moving Magnet (MM) Tonabnehmer von Audio-Technica verlangen nach einer Abschlusskapazität von 100 bis 200 Picofarad (pF). Nur wenige Vollverstärker boten früher derart niederkapazitive Phonoeingänge – der Camtech V100/V101 hatte einen Phonoeingang mit 50 pF, und einige Verstärker von NAD und Proton ließen sich ebenfalls soweit herunterregeln. Heute sind die Phonoeingänge in Vollverstärkern in der Regel so schlecht, dass man kurioserweise das volle Potenzial eines AT95E nur mit höherwertigen externen Phonovorstufen ergründen kann.

Doch in genau diesem Punkt stach das AT95E aus der Produktpalette von Audio-Technica heraus. Während schon das nächstteurere Modell AT110E sehr launisch auf zu hohe Kapazitäten reagieren konnte, bewahrte das AT95 seinen Klangcharakter an fast jedem Phonoeingang. Es machte einfach Spaß. Mit perfekt angepasster Kapazität verliert das AT95E jedoch seine oft bemängelte Steife und Rauhigkeit. Es klang, fein aufgelöst, luftig und dennoch in sich geschlossen. Letzteres hat mich bis zuletzt am AT95E fasziniert. Ja, Spitzentonabnehmer kratzten mit ihrer feinen Nadel viel mehr Informationen aus der Rille. Ein Top-MM von Audio-Technica nervte mich am Ende, weil es die überbordende Fülle der Klangereignisse nicht in ein geschlossenes Klangbild integrieren konnte. Ich fühlte mich als Hörer oft mit Ploings, Blings und Zings achtlos beworfen.

Nachfolge: AT95E im Vergleich zum VM95E

Audio-Technica VM95E
Audio-Technica VM95E (Foto: Wolff von Rechenberg)

Kommen wir nun zum Nachfolger unseres Klassikers, zum VM95E. Was Audio-Technica an dem neuen, ebenfalls giftgrünen Tonabnehmer verändert hat, soll uns als einfache Musikhörer nicht beschäftigen. Den Einbau hat Audio-Technica erleichtert, indem man die Gewindehülsen für die Monatageschrauben ins Gehäuse einließ. Das erspart das Hantieren mit winzigen Muttern. Gleichzeitig hat der Hersteller den Einbau erschwert, weil das VM95 vorn keine gerade Kante besitzt.

2019 ersetzte das VM95E seinen berühmten Vorgänger. Wir können es kurz machen: Auflage, Kapazität, Ausgangspegel, nichts hat sich merklich verändert. Alles, was das AT klanglich konnte, macht das VM einen Hauch besser. Das VM95 wird weiterhin jeden Pop- und Rockhörer begeistern. Aber jetzt sollten auch Jazz- und Klassikhörer ein Ohr riskieren. Der Bass besitzt etwas mehr Kontrolle, die Höhen klingen feiner. An einem guten Phonovorverstärker – in meinem Fall einem Acoustic Signature Tango -, eingestellt auf 50 pF bringt das VM95 sehr viel besser den Raum zum Klingen. Die Percussioninstrumente auf Sades „Diamond Life“ klingen besser differenziert. Gleichzeitig hat der Bass mehr Textur. Glenn Goulds Flügel in den Goldberg Variationen von Johann-Sebastian Bach aus dem Jahr 1982 kommt dem Klang eines realen Instruments nun eine Idee näher. Das VM95E bewältigt die Anschläge des Instruments sehr viel besser als sein Vorgänger.

Fassen wir zusammen: Wir sprechen hier von Unterschieden, für die 99 Prozent der Musikhörer keinen Euro mehr ausgeben würden. Brauchen sie auch nicht, das VM95E kostet weiterhin nur 50 Euro. Und 99 Prozent der Besitzer eines highendigen Phonovorverstärkers würden Tonabnehmer dieser Preisklasse ohnehin keines Blickes würdigen. Ein Fehler, denn das VM95E ist ein klares Upgrade des AT95E.

Diese LPs kamen zum Einsatz