Hotels mit riesigen Aquarien, die über mehrere Stockwerke gehen, Kaufhäuser mit Maßkonfektion, prächtige Opernhäuser, Ehrfurcht gebietende Dome, Kunstgalerien, in denen man mit Google Maps den Weg suchen muss: Was es in Berlin nicht gibt, das gibt es nicht – nirgendwo in Deutschland. Und alle tragen zu diesem Eindruck bei: die mächtigen Hauptstadtrepräsentanzen der Autohersteller, der Parfümerien, der Mode- und Industriedesigner.
Wer in Berlin nicht Flagge zeigt, den gibt es nicht. Vor allem Berlins neue Mitte ist eine Kulisse. Eine Kulisse für einen Film, für den einzig die Finanzierung schon steht. Wer jedoch Regie führt, wer die Hauptrolle spielen soll, das ist völlig unklar. Denn auch das ist Berlin: 20 Euro reichen in Paris für drei Bier, in Frankfurt am Main höchstens für vier. In Berlin reichen 20 Euro für eine Sauftour mit Alkoholvergiftung. Teuer sind nur eine Handvoll Restaurants rund um den Gendarmenmarkt.
Nur ein paar Meter weiter weg sinken die Preise. Selbst bei nobel eingerichteten Restaurants erhält der hungrige Tourist eine Mahlzeit für weniger als 10 Euro. Das kosten in entsprechender Lage in Hamburg oder München schon fast die Dönerbuden.
Das hat etwas von Rufen im Walde: Wenn sich nur genug Läden mit rahmengenähten Budapester Schuhen an einem Ort niederlassen, dann wird sich doch wohl auch die Kundschaft einfinden, die die Schuhe trägt, oder? Schließlich ist das doch die Hauptstadt, oder nicht?
Das stimmt, Berlin ist die Hauptstadt und gleichzeitig ein riesiges Freizeitparadies. In kaum einer anderen deutschen Großstadt springt die Armut so ins Auge dess geschockten Besuchers wie in Berlin. So wuseln vor der Kulisse, dem Prunk der Autohäuser und Maßschneider und Herrenausstatter nur die Scharen von Komparsen und Nebendarstellern umher, ein Heer von Hartz-IV-Empfängern und Lebenskünstlern.
Dabei lässt sich beides nicht wirklich scharf voneinander trennen. Berlin zieht die Kreativen an, wie keine andere Stadt. das Mietniveau ist niedriger als in irgendeiner anderen deutschen Szene-Metropole. Hier braucht man nur jeden zweiten Tag in der Kneipe arbeiten zu gehen, um Miete und Grundnahrungsmittel (Bio-Möhren, Coffee-To-Go, Zigaretten) zu finanzieren.
Der Rest der Lebenszeit gehört den Projekten. Fast jeder Berliner zwischen 20 und 45 scheint an irgendwelchen Projekten zu arbeiten: Malerei, Filme, Bücher, Musik, Underground-Magazine und Web-2.0-Portale, die Auswahl ist riesig, denn was es in Berlin nicht gibt, das… aber das hatten wir ja schon.
Keiner fragt hier, ob diese Projekte kommerziell tragen, aber jeder träumt davon. In Berlin gilt die Devise: Mach dein Ding, dies ist der Platz dafür. Das Tun ist Selbstzweck. Berlin ist die Stadt der Träume. Für die, die dort leben und für die, die dort nicht leben erst recht. Und zum Träumen reicht in Berlin ein Notebook in einer Tsche von Crumpler.
Das milde soziale Klima, die niedrigen Mieten und Preise, sorgen dafür, dass niemand aufwachen muss. Berlin hat die Bohème zur allgemeinen Lebensphilosophie verklärt. Der alte Geldadel der Stadt lebt in einer Parallelwelt in den Villen am Wannsee.
Nur die Neureichen machen den Bohemians die Stadt streitig. Sie tragen keine Crumpler-Taschen, sondern Blackerry-Smartphones, auf denen sie mit faszinierender Ausdauer durch ihre E-Mails scrollen. Für sie entstehen elitäre Wohnanlagen in Mitte und am Prenzlauer Berg. Aber bisher ist Berlin groß genug: Auf über 800 Quadratkilometern findet sich irgendwo immer ein Plätzchen, an dem die Mieten niedrig sind und die Bars der Subkultur Kellerräume finden.
Wenn dann die Yuppies nachziehen, wenn die Mieten steigen und die Bars schicker werden – dann zieht die Szene weiter, und eine neuer Stadtteil ist plötzlich „in“. In Berlin ist Bewegung – in jeder Beziehung. Vom Prenzlauer Berg nach Friedrichshain und weiter nach Neukölln.
Das Bewusstsein der eigenen Größe macht die Berliner unempfindlich für Anfeindungen aber auch für gut gemeinte Ratschläge aus dem Rest der Republik. Die Regeln der Provinz gelten nicht für die Metropole, meint der Berliner. Dabei umfasst der Begriff Provinz auch Dörfer wie München, Hamburg oder Frankfurt am Main.
Mit dieser Halsstarrigkeit verweigert sich der Berliner, seinen Lebensrhythmus dem anzupassen, was anderswo als pulsierendes Lebensgefühl einer Metropole angesehen wird. Weder in Hamburg noch in Köln steigen die Menschen in solch gemächlichem Tempo in die U-Bahn. Geschäftsreisende im Termindruck kann es zur Verzweiflung treiben, wenn die Berliner mit betonter Lässigkeit in die U-Bahn zu schlappen beginnen, wenn die automatische Ansage schon mahnt: „Bitte einsteigen.“
Ähnliches gilt für Rolltreppen. Das Schlagwort „Rechts stehen, links gehen“ gilt nur auf den Rolltreppen im Bahnhof Berlin-Friedrichstraße. Im Rest der Stadt bleibt man auf der Rolltreppe einfach stehen und mustert betont missfällig Blackberry-Träger, die trotzdem versuchen, sich vorbei zu drängeln.
3. November 2008 — 18:29
Sehr treffend. Kann Dir in einigen Punkten nur beipflichten. Det is Berlin, wa!
3. November 2008 — 21:01
Wenn das ein waschechter Berliner sagt, dann fühle ich mich geehrt.