Stellen Sie sich vor, Sie sind Psychoanalytiker. Eines Tages finden Sie in Ihrer Praxis einen Brief. Darin wirft Ihnen ein ehemaliger Patient vor, sein Leben zerstört zu haben. Nun will er Ihres zerstören. Nein, umbringen will er Sie nicht. Das sollen Sie selbst tun. Und zwar binnen 15 Tagen. Sonst will er ihre gesamte Familie umbrinen. Einen nach dem anderen.

Auch wenn Sie zur Polizei gehen, will er sich an Ihren Verwandten ergreifen. Der Erpresser eröffnet nur einen Ausweg: Sie müssen innerhalb der Frist herausfinden, wer der Mann ist, der sich im Übrigen „Rumpelstilzchen“ nennt. Was tun Sie?

Ich würde zur Polizei gehen. Die würde in kürzester Zeit alle ehemaligen Patienten unter die Lupe nehmen. Sie würde den Schuldigen fassen. Sollte er bis dahin jemanden ermordet haben, brauche ich nur zuzusehen, wie der Perversling lebenslang hinter Gittern verschwindet, und darf hoffen, dass er sich im Knast recht oft in der Dusche nach der Seife bücken muss.

Wenn sich die Protagonisten in John Katzenbachs „Der Patient“ alle logisch verhielten, dann hätte er einen rasanten Polizeithriller geschrieben. Doch leider entwickeln sich die Dinge nicht immer zum Besten. Für John Katzenbachs Psychotherapeuten Ricky Starks nicht, und auch nicht für den Leser.

Starks geht – natürlich – nicht zur Polizei. Auch nicht nachdem der Erpresser eine Großnichte des Seelenklempners terrorisiert und einen Patienten ermordet hat. Wenn er zur Polizei ginge, dann würde ihm die wahrscheinlich nicht glauben. Starks Berufsverband glaubt ihm jedenfalls nicht. Eine angebliche Ex-Patientin bezichtigt ihn, sie während einer Sitzung vergewaltigt zu haben.

Natürlich steckt auch dahinter Starks mysteriöser Ex-Patient. Dazu nur soviel: Solche Anschuldigungen äußern Patienten, die den Therapeuten gewechselt haben des öfteren. Ein erfahrener Therapeut erkennt übrigens, ob ihm eine „Patientin“ etwas vorschwindelt.

Ob Psychopathen tatsächlich in der Lage sind, über Jahre ein so ausgefeiltes Rachespiel auszutüfteln, müssen die Analytiker beurteilen. Selbst dann reißt es das Buch nicht mehr heraus. John Katzenbach reiht sich ein in die Reihe derer, die Psycho-Thriller ohne Kenntnis der menschlichen Psyche schreiben. Sein Täter muss nur deshalb verrückt sein, weil der Autor seinen arg konstruierten Plot mit irgendetwas erklären muss.

Wenn der Roman wenigstens Tempo hätte… Aber da braucht Katzenbach volle 100 Seiten, um zu erklären warum Ricky Starks keine Hilfe bei der Polizei suchen kann. Das wirkt schon nach 10 Seiten an den Haaren herbei gezogen und klänge auch nach 1000 Seiten nicht glaubwürdiger.

Eine männliche Joy Fielding ist John Katzenbach nicht. Und er ist auch kein Dennis Lehane, von dem ich im nächsten Buchtipp berichten möchte. Aber wer soviel liest wie ich, muss bisweilen auch Mittelmaß ertragen können.