Das Web 2.0 braucht eine Gesellschaftstheorie 2.0. In der Gesellschaftstheorie 1.0 gehörte die Bühne Regierungen, Parteien, Verbänden und etablierten Medien. Sie bestimmten, wer gehört wurde und vor allem, wer nicht gehört wurde. Das durch die Weblogs begündete Web 2.0 verschafft jedem Öffentlichkeit, der das wünscht. In der gegenwärtigen Entwicklungsphase drängt das Web 2.0 den Einzelnen regelrecht in die Öffentlichkeit: In der IT-Branche gehören Netzwerke wie Xing längst zu den etablierten Jobbörsen und wer als Pennäler nicht in SchülerVZ ist, der existiert auch außerhalb des Portals nicht so richtig.

Innerhalb der Plattformen wie auch im Internet allgemein findet kaum Kontrolle statt. Wen wundert es, dass sich online allerhand Zweifelhaftes und Widerwärtiges findet. Die Bundesregierung warnt jetzt davor, das Web 2.0 sei eine „ideale Plattform“ für Islamisten. Sie könnten sich dort zu Straftaten verabreden, ihre Lehren verbreiten und Nachwuchs rekrutieren. Die Liste ließe sich fortsetzen: Das Web 2.0 ist eine ideale Plattform für Kinderschänder, Neonazis, Erpresser, Trickbetrüger, Serieneinbrecher und Psychopathen.

Die Bundesregierung ist nicht im Web 2.0

Die Warnung der Bundesregierung erfolgte auf eine Anfrage der FDP-Fraktion im Bundestag, in jener Plattform der Politik 1.0, auf der Diskussionen noch geführt wurden bevor die Übertragungsrechte in den Kurzwellensendern des Deutschlandfunk versanken. Warum warnt die Bundesregierung nicht öffentlich im Web 2.0 vor der Gefahr? Warum wendet sie sich nicht an jene, die sich in Gefahr befinden? An die armen Kids in SchülerVZ, die IT-Nerds in Xing oder die Spieler in Second Life?

Weil aus unserer Bundesregierung keiner drin ist. Weil sich aus unserer politischen Elite keiner aktiv am Web 2.0 beteiligt. Deutsche Regierungsmitglieder diskutieren nicht mit Usern in Online-Foren, das überlassen sie den Terroristen. Deutsche Regierungsmitglieder teilen huldvoll mit, was sie sich so denken, zwischen Kabinettssitzungen und Geschäftsessen. Deutsche Ministerien finden sich schon cool, wenn sie RSS-Feeds anbieten. Dort stehen dann wochenlang dieselben Pressemitteilungen. Für Deutschlands politische Klasse ist das Internet eine Krankheit, die es zu überstehen gilt, wie man eine Grippe übersteht.

Das Chaos ist der Bürger

Deutschlands politische Klasse schätzt devote Hauptstadtkorrespondenten, deren Redaktionsstuben man vom Verfassungsschutz umkrempeln lassen kann, wenn sie einem quer kommen. Hauptstadtkorrespondenten kann man mit Entzug der Machtnähe bestrafen. Sie dokumentieren ihren Informationsvorsprung gern durch staatstragende Berichterstattung, denn wenn sie den Gegenstand ihres Tuns in Frage stellten, müssten sie am Ende an sich selbst zweifeln.

Im Sumpf des Web 2.0 gibt es Bürger, die ungefragt ihre Meinung sagen: Das Chaos für unsere in ritualisierten Lagerkämpfen erstarrten Parteien, für die Demoskopie-süchtigen Wahlkampfstrategen, deren Rat im Zweifel immer vor Problemlösungen geht.

Web 2.0 ist, was wir daraus machen

Dabei ist das Web 2.0 eigentlich nichts anderes als das, was wir daraus machen. Jeder einzelne von uns. Wenn Wolfgang Schäuble es verteufelt, dann überlässt er das zentrale Medium des 21. jahrhunderts den Islamisten, Terroristen und Neonazis. Wenn sich die etablierte Politik davor verschließt, dann verliert sie die Jugend. Denn schon heute besitzt das Internet für Jugendliche mehr Bedeutung als das Fernsehen.

Wenn der Staat Gesellschaft gestalten will, dann muss er dazu die Medien wählen, die seine Adressaten nutzen – wir! Wenn er sich dort den Diskussionen nicht stellt, dann schadet er der Gesellschaft – uns!